Es lebe der Revolutionär

Gareth Stedman Jones’ maßgebliche Marx-Biografie ist ein Porträt eines Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts, kein dogmatisch gebundener Ideologe

Graffiti mit Karl Marx an einer Wand in der Nähe der Büros der Bank of Portugal in Lissabon, Portugal. (Quelle: Miguel Ribeiro Fernandes/International Herald Tribune)Graffiti mit Karl Marx an einer Wand in der Nähe der Büros der Bank of Portugal in Lissabon, Portugal. (Quelle: Miguel Ribeiro Fernandes/International Herald Tribune)

Titel: KARL MARX: Größe und Illusion
Autor: Gareth Stedman Jones
Herausgeber: Harvard University Press
Seiten: 750
Preis: Rs 1999



Es ist keine leichte Aufgabe, die Figur von Karl Marx aus dem Erbe des Marxismus, seines eigenen verkrusteten Rufs und seines ruppigen Bartes zurückzugewinnen. Gareth Stedman Jones’ gründlich recherchierte, flüssige, fesselnde und maßgebliche Marx-Biografie unternimmt zwei Schritte, um genau das zu tun.



Erstens verortet er Marx im politischen und intellektuellen Umfeld des 19. Jahrhunderts, anstatt ihn mit den Augen des 20. zu sehen. Dies ist Marx, ein umherziehender, verarmter, egoistischer Intellektueller mit einem leichten Sauerteig revolutionären Ehrgeizes, der versucht, die politischen Umstände um ihn herum zu verstehen. Zweitens sieht man ihn in einigen der bewegendsten Teile der Biografie unermüdlich und ehrlich versuchen, die Welt um ihn herum theoretisch zu verstehen. Seine Werke durchlaufen zahlreiche Entwürfe. Insbesondere Stedman Jones' Bericht über die Entwicklung des Kapitals zeigt einen echten Intellektuellen bei der Arbeit, der versucht, die deduktive Theorie mit induktiveren historischen Einsichten in Einklang zu bringen, versucht, einen Entwurf nach dem anderen durchzugehen und sich intensiv mit auftretenden Problemen auseinanderzusetzen, insbesondere in der Werttheorie bzw. Es mag gelegentliche Behauptungen bei Marx geben, die nicht durch Beweise gerechtfertigt sind. Aber das Gesamtporträt, das Sie erhalten, ist nicht das eines Ideologen, sondern eines Intellektuellen im Sinne des 19. Jahrhunderts: eine Universalgelehrte, die versucht, die Welt zu verstehen und ihr ein bisschen intellektuelle Ordnung zu entreißen. Marxisten mögen dogmatisch sein; Marx war alles andere als.





Marx wurde 1818 in Trier geboren. Stedman Jones ist besonders gut darin, wie sich die politischen Strömungen der Zeit, vom Schatten des napoleonischen Projekts bis zur Politik in Preußen, mit der Familiengeschichte von Marx kreuzen. Oder die Politik der Judenfrage und Marx' eigene Beziehung dazu, einschließlich seines leichtfertigen Gebrauchs antisemitischer Tropen. Das Porträt der Familie Marx hat genug Stoff für einen Roman: von Romanze bis Verrat, Generationenkonflikt, die Spannung zwischen Menschlichkeit und Verantwortung gegenüber der Familie. Stedman Jones zeichnet anschaulich den Lebenslauf von Marx durch Paris, Brüssel, London und nach den 1860er Jahren in die Politik der Arbeiterbewegung nach und verbindet dabei geschickt persönliche Mühsal mit größeren politischen Dramen.
Aber der Erzählstrang von Stedman Jones baut auf einem tiefgreifenden Paradox auf. Auf einer Ebene, im Kontext des 19. Jahrhunderts verstanden, scheint Marx' Karriere ein Scheitern zu sein. Diese Fehler sind in vier Linien organisiert. Als politischer Analytiker gibt es eine tiefe Diskrepanz zwischen den sozialen Kategorien, die Marx aufstellt, und dem tatsächlichen Fluss der Politik. Der Versuch, politische Kämpfe als Manifestationen sozialer Kollisionen zu lesen, führte zu einer viel zu groben Lesart der Ereignisse. Marx war ungewöhnlich darin, Klassenkonflikte als Quelle der Hoffnung zu sehen. Aber seine Unachtsamkeit gegenüber der Unterscheidung zwischen politischer und ökonomischer Bedeutung von Klasse führte zu Fehleinschätzungen. Der Beitrag von Stedman Jones als Historiker in seinem wegweisenden Buch Languages ​​of Class bestand darin zu behaupten, dass das Klassenbewusstsein untrennbar mit den Sprachen verbunden ist, die zur Schaffung von Klassenidentität produziert werden; es ist nicht gegeben. Marx unterschätzte die Rolle der diskursiven Klassenbildung. Das theoretische Hauptprojekt von Marx, das Verständnis der Natur des Wertes, blieb unerfüllt.

Karl-Marx-Buch-759Die Diskussion von Stedman Jones über die Entwicklung des Wertdenkens bei Marx ist strukturiert und ein Modell klarer Artikulation. Die Tatsache, dass das Kapital unvollendet blieb, war in gewisser Weise ein Zeichen für die intellektuellen Schwierigkeiten des Projekts. Marx’ Verständnis von Revolution und Alternativen zum Kapitalismus ist bestenfalls eher improvisatorisch als rigoros, und auch hier ist Jones überzeugend darin, Marx’ Beziehung zu den Möglichkeiten aufzuzeigen, die verschiedenen Gesellschaftsformen innewohnen, einschließlich einer ausführlichen Diskussion über russische Bauerngemeinschaften.
Wie passen diese Misserfolge zur fortdauernden Unverzichtbarkeit von Marx? In gewisser Hinsicht sind wir jetzt alle Marxisten. Selbst diejenigen, die sich vehement von ihm distanzieren, denken implizit in einem von ihm vererbten Problemrahmen. Eine Antwort ist natürlich die außerordentliche Fruchtbarkeit der Marxschen Texte; wie jede große Werkgruppe überschreiten sie ihr zentrales Design. Sie können mit Marx denken. Er ist immer noch der mächtigste Diagnostiker der Moderne und der tiefen existenziellen Lasten, die wir tragen. Wie Stedman Jones schreibt, war Marx der erste, der die atemberaubende Transformation aufzeigte, die in weniger als einem Jahrhundert durch die Entstehung eines Weltmarktes und die Entfesselung der beispiellosen Produktivkräfte der modernen Industrie hervorgerufen wurde. Er skizzierte auch den endlos unfertigen, unaufhörlich rastlosen und unfertigen Charakter des modernen Kapitalismus als Phänomen. Er betonte seine inhärente Tendenz, neue Bedürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung zu erfinden, seine Untergrabung aller ererbten kulturellen Praktiken und Überzeugungen, seine Missachtung aller Grenzen, seien sie sakral oder weltlich, seine Destabilisierung jeder geheiligten Hierarchie, ob von Herrschern oder Beherrschten, Mann und Frau oder Eltern und Kind, alles in ein Verkaufsobjekt verwandelt.



Stedman Jones' Akt der Wiederherstellung von Marx ins 19. Jahrhundert ist eine großartige Leistung. Aber vielleicht macht der Wunsch, Marx in seinen konkreten Kontext zurückzubringen, unwissentlich die Natur seiner Leistung mehr und nicht weniger schwer fassbar. Die Entstehungsgeschichte der Marxschen Texte geht ein wenig auf Kosten des Verständnisses ihrer Wirkungen. Der Historiker, der Theoretiker, der Rhetoriker, der Romantiker und ja sogar der Prophet werden nicht an seinen Kontext gebunden. Denn es ist das Kennzeichen eines großen Werkes, dass es trotz all seiner Fehler immer wieder einen neuen Kontext für sich selbst schafft. Marx spricht immer noch zu uns wie kein anderer.